Große Liebe – kleine Liebe
Manchmal passiert es mir, dass ich ein neues Buch beginne und dieses nach wenigen Seiten wieder zuschlage, weil ich dort auf einen Satz gestoßen bin, der mich derartig berührt, dass ich hin- und hergerissen bin zwischen Jubeln und Weinen. Äußerlich mag er einfach daherkommen, aber ich spüre, dass er tief in mir etwas in Worte fasst, Worte, die ich selbst bis dahin noch nicht gefunden habe. Ich kann dann nicht weiterlesen. Ich brauche zunächst Zeit, diesen Satz in seiner ganzen Tiefe zu erfassen.
Gerade war es wieder soweit. Der Paartherapeut Oskar Holzberg zitiert in seinem Buch „Liebe braucht Liebe“ den Mythenforscher Joseph Campbell: „Wenn der Weg vor dir klar und eindeutig ist, dann bist du wahrscheinlich auf dem Weg eines anderen.“
Kennen Sie diese Sehnsucht nach einem authentischen Leben, die Hoffnung auf den einzigartigen Moment, der alles wendet, auf die Erfahrung, die in Weisheit mündet, auf die große Liebe, in der sich unser Leben vollendet? Ich kenne diese Sehnsucht, diese Suchbewegungen. Und genauso kenne ich die Enttäuschung, die Ent-Täuschung, die regelmäßig damit einhergeht, wenn sich DER Moment schon bald als ein weiterer unter vielen anderen durchschnittlichen entpuppt. Dann brauche ich vertraute Menschen, die mir helfen zu sortieren, die mit mir trauern und mich dann etwas getröstet und gestärkt wieder auf meinen Weg entlassen.
Oskar Holzberg unterscheidet in seinem Buch die „große Liebe“ und die „kleine Liebe“. In der großen Liebe findet er die Suche nach dem einen perfekten Gegenüber wieder, die uns alle wohl in der einen oder anderen Weise begleitet. Wir suchen den einen Menschen, der unsere bis dahin unvollkommene Selbstverwirklichung allein durch sein Dasein vervollkommnet. Doch spätestens nach den Flitterwochen entdecken wir, dass dieser entzückende Mensch eben ein Mensch ist: ein Wesen mit Macken, Kanten und Schwächen. Ausgeträumt. Weitersuchen?
Der großen Liebe stellt er die kleine Liebe gegenüber, die durch kleine Erfahrungen und Momente der Liebe, der Unterstützung, der Freude, des Vertrauens, des Trostes, der Leichtigkeit die Unmöglichkeit der großen Liebe erträglich macht und gerade auf diese Weise Liebe lebensnah und hilfreich spüren lässt.
Wir vom Kirchlichen Dienst in Polizei und Zoll werden Sie mit unseren Begegnungen und Angeboten weder wunschlos glücklich machen noch erleuchten. Aber wir können Ihnen Momente der Begleitung anbieten, Augenblicke oder auch Stunden des gemeinsamen Fragens und Suchens, Einladungen zum Perspektivwechsel aufgrund unserer Erfahrungen in der Begegnung mit vielen anderen Menschen. Menschen, die wie Sie vielleicht immer wieder die Sehnsucht nach der „großen Liebe“ verspüren und dabei lernen möchten, mit Hilfe der „kleinen Liebe“ zu Gelassenheit und innerem Frieden zu finden, und die das, was sie finden, mit uns teilen.
Um den Gedanken von Joseph Campbell noch einmal aufzugreifen: Freuen Sie sich, wenn der Weg vor Ihnen alles andere als klar und eindeutig ist – es könnte ein Zeichen dafür sein, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, auf Ihrem eigenen Weg, mitten durch das Leben.
Mit herzlichen Segensgrüßen
Axel Kullik, Seelsorger in der PD Oldenburg und der Region Ostfriesland